Wer bin ich? Astrologie, Identität und Widerstand

Warum Millenials mehr an Sternzeichen als an Geschlecht glauben und Kristalle nicht die Welt retten werden

Als ich ein Kind war, gehörte es zu meinen wöchentlichen Routinen, jeden Donnerstag pünktlich zum Erscheinen der (gedruckten!) Fernsehzeitung hastig die Seite mit den Horoskopen aufzuschlagen, meine Mutter zu suchen und ihr – ob sie es wollte oder nicht – ihr Wochenhoroskop vorzulesen. Mit gespielter Dramatik trug ich daraufhin auch vor, was für mich vorhergesehen war. Je nach Stimmung, je nachdem ob sich die Autor*in des Horoskops für den Löwen Mühe gegeben hatte, würde ich sagen: „Aber eigentlich bin ja eh Krebs, deswegen gilt das nicht“, und die andere Spalte vorlesen. Ich hatte da meine eigene Logik was Sternzeichen anging; denn wenn ich nicht zwei Wochen zu spät und nur 15 Stunden und 5 Minuten eher das Licht der Welt erblickt hätte, wäre ich Krebs – ich fand, dass mir das die Berechtigung gab, frei zwischen beiden Sternzeichen zu wählen.

Näher als zu dieser Zeit bin ich Horoskopen und der Astrologie nie gekommen. Sie verschwanden aus meinem Leben wie gedruckte Fernsehzeitungen. Aber während Letztere heute verzichtbar und vergessen sind, haben Sternzeichen und die Astrologie eine popkulturelle Renaissance erlebt. Oder eine Re-Renaissance, denn das Interesse daran kommt und geht in Wellen. Momentan ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Freundin mich während eines rants unterbricht, um zu fragen, welches Sternzeichen die Person denn hat, die mich so nervt. Und mehrmals täglich wollen Instagram-Memes mir auf lustige Weise irgendetwas über „Sagattarius“ mitteilen. Leider hinke ich bei den englischen Bezeichnungen der Sternzeichen immer noch hinterher. Der Astro-Markt boomt: Die Anzahl der Apps, Podcasts und Astrofluencer wächst. Der Erfolg der Astrologie wird oft auch deswegen bestaunt, weil es ein so offensichtlich fehlerhaftes und unglaubwürdiges System sei. Warum schauen die Menschen in die Sterne, wenn sie dort keine Wahrheit finden werden?

Sind wir verunsichert oder fed up?

Die Erklärungsansätze von diversen Wissenschaftler*innen kreisen allesamt um eine diagnostizierte Unsicherheit, die vor allem die junge Generation verspüre. Die Welt dreht sich schnell, alte Glaubenssysteme wie Religion oder Tradition fruchten nicht mehr, die Arbeitswelt verändert sich, wir werden mobiler, die Beziehungen flüchtiger, die Familien lösen sich auf etc. etc. Astrologie eröffne demnach die Möglichkeit, die Ereignisse in der Welt und das Verhalten von Menschen zu erklären und einer ‚höheren‘ Macht zuzuschreiben. Angesichts der Tatsache jedoch, dass bereits in den 1950ern von niemand anderem als Philosophen und Soziologen Theodor Adorno etwas sehr ähnliches vermutet wurde, ist es jetzt Zeit stutzig zu werden. Die Kritik an Astrologie ist anscheinend so alt wie das Lechzen danach. Dazu kommt, dass dieses Argument – Verunsicherung – sehr häufig für alles mögliche herangezogen wird, sowohl für die Beliebtheit der Astrologie als auch für das Abrutschen in die rechte Szene. Natürlich sind wir verunsichert, warum ist jetzt (wieder) die Astrologie die Antwort? Interessant ist doch, dass gerade junge, politisch interessierte Erwachsene mit höheren Bildungsabschlüssen nach den Sternen greifen. Natürlich sind wir verunsichert, aber warum ist uns wichtiger, in welchem Haus Jupiter steht als zum Beispiel der Eintritt in eine Partei?

Die Astrologie bietet mehr als nur das Gefühl, wieder 14 zu sein und bei Facebook herauszufinden, welcher Gossip Girl Charakter man ist und sie bietet mehr als nur einen Ersatz für Religion. Sie ist die Abkehr von mindestens einem weiteren Glaubenssystem: dem Wissen über Identitäten. Millenials, über die wir alle gerne lachen, verstehen immer mehr, was die bisherige Kategorisierung von Menschen nach ‚race‘, Migrationshintergrund, Geschlecht oder beispielsweise sexueller Orientierung angerichtet hat und anrichtet. Daher ist das Argument, Astrologie sei nicht wissenschaftlich und ihre Vorhersagen und Einschätzungen nichts wert, auch nicht hilfreich: Die Unterscheidung zwischen rationaler Wissenschaft und irrationaler Astrologie ist vollkommen hinfällig, wenn man sich klar macht, welche ‚Wahrheiten‘ die Wissenschaft schon über die Einordnung von Menschen hervorgebracht hat, über die wir heute nur noch Lachen und Weinen können. Es gab zum Beispiel meines Wissens noch nie einen Astrologen, der behauptet hat, der Uterus wandere in der Frau umher.1 Die Gleichungen „weiblich = hysterisch“ oder „Weiß = zivilisiert“ funktionieren nicht mehr. We know better. Wir wissen, dass Geschlecht ein Kontinuum ist, dass Hautfarbe nicht mit Intelligenz zusammenhängt. Die alten Identitätsschubladen haben nicht nur ihre Bedeutung verloren, der ganze Schrank muss abgerissen und neu gebaut werden. Und doch ist Astrologie gerade deswegen so attraktiv, weil sie über genau so viele Regeln und Komplexität vefügt, um der Wissenschaft, unserem Glaubenssystem No. 1, zu ähneln. Gleichzeitig lässt sie ausreichend Interpretationsspielraum, um schnell als Humbug verworfen zu werden. Nicht umsonst ist die auf NASA-Daten gestützte App Co-Star beliebt, weil sie den direkten Bezug zur Wissenschaft herstellt und Tipps ausspuckt über die man oft nur lachen kann: „Kauf dir neue Kleidung!“, „Glaub daran, dass alles möglich ist“. Deep.

Die Astrologie bietet also eine Alternative, um sich selbst zu begreifen, ihre Kategorien sind einfach und komplex genug, um sich immer darin wiederzufinden. Die Einteilung ist vielleicht willkürlich, geht aber eben nicht mit einer Diskriminierung einher. Wie Hengameh Yaghoobifarah so schön schreibt: „Niemand bekommt einen Job nicht, weil sie*er Waage ist. Niemand wird von der Polizei festgenommen, weil sie*er Skorpion ist. Astrologie steckt Menschen nicht in Kategorien, die sie für ihr restliches Leben einschränken.“

Adorno gefällt das nicht

Wir spielen also so gerne real life „Wer bin ich?“ (Astrologie-Edition), weil wir wissen wollen, wer wir sind und schnelle Antworten bekommen, ganz ohne Selbstfindungstrip nach Asien. Und wirklich befreiend ist ja auch zu wissen, wer wir eben nicht sind und was nicht sein wird. Wer in einer „just do it“ – Welt lebt, in der viele weiterhin annehmen, man könne sich aus allen Armuts- und anderen Ungleichheitsverhältnissen mit viel Fleiß herausarbeiten, der*die will vielleicht mal hören, dass eine schlechte Woche nichts mit Faulheit zu tun hat, sondern schlicht mit den Sternen. Aufatmen und Loslassen im Zeitalter der Eigenverantwortung.

Und in der Astrologie sind wir nicht zerteilbar in zu straffende abs, legs und booties, wir bestehen nicht nur aus Serotonin, Endorphinen und Hippocampus. Sondern aus Sternenstaub.

Was uns hier geboten wird, ist eine alternative Vorstellung des Menschen. Vermeintlich formbare Körper und Mindsets finden eine mögliche Endgegnerin in der Astrologie. Und somit überrascht es nicht, dass gerade politisch motivierte Menschen sich ihrer bedienen, denn die Ideen sind widerständig gegen des Strom permanenter Aufrufe zur Selbstbearbeitung.

Adorno wiederum dreht sich im Grabe um: Er glaubte, dass die populäre Astrologie die Menschen dazu anleite, ihre Abhängigkeit und Unterwürfigkeit „blind“ zu akzeptieren, ebenso wie die Bedingungen, die die Arbeit und das Leben strukturieren (Hallo, Kapitalismus, schon damals). Hat er (auch) Recht?

Ja, denn selbstverständlich gibt es auch überhaupt nicht ‚die‘ Astrologie. Es gibt einen Unterschied zwischen der Verwendung und Bedeutung in queeren communities und astrologischen Susannes, die mir etwas von der Bedeutung der Weiblichkeit für das Universum erzählen wollen. Und die Astrologie ist längst – surprise – vom Kommerz gekapert. Denn wenn der Markt eins liebt, dann vorgefertigte Identitäten und Zielgruppen, auf die man Produkte und Werbung abstimmen kann. Längst gibt es Modekollektionen für eifersüchtige Zwillinge, Kristalle und Apps zu, die unendlich Daten sammeln. Das zunächst unverbindlichen Podcasthören kann so ganz schnell dazu führen, die ganze Welt und alle Menschen im Sinne der Sterne zu betrachten. Denn wenn der Markt eins liebt, dann Kategorien zu verfestigen.

Und hier kommt der revolutionäre Moment der Astrologie ins Spiel, den ich wohl als Kind spürte, wenn ich mich ab und an entschied, mich als Krebs zu identifizieren:

Was im Bereich von Geschlecht, Klasse, und ‚race‘ nicht möglich ist, ein leichtfüßiger Wechsel der Kategorien, sei uns in der Astrologie erlaubt. Ist ja eh alles Quatsch, lieber nächste Woche nochmal gucken. Ein schöner Moment der spontanen Flucht, um den Pfeilen der Werbung und der Verfestigung zu entwischen.





#fomo: Wenn ich nur eine Sache zum Thema empfehlen dürfte…

1 Denis Diderot (1772/1953): Über die Frauen. Erzählungen und Gespräche. Leipzig.

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