Erzählungen über deutsche Helden halten sich hartnäckig und sie sind überall. Von Kolonialliteratur bis Reality TV: Die Nation liebt es, mehr über sich selbst und übers Deutschsein zu erfahren. Am liebsten an ‚exotischen‘ Orten.
Nie sieht man wie Desirée Nick versucht, Sterne aus einem Scone-Teig in einem urigen Café in London zu fischen. Nie wurde eine Rose im Freud-Museum in Wien vergeben. Und ich warte immer noch darauf, dass eine Influencerin vor dem Hintergrund einer französischen Boulangerie verkündet, sie sei nicht hier, um Freunde zu finden. Warum spielt ein Großteil von Reality-Formaten im nicht-europäischen Ausland? „Ich bin ein Star“ setzt seine Kandidat*innen im sogenannten „Dschungel“ ab, im Winter kämpfen die Promis „unter Palmen“ und der Bachelor war letztes Jahr nur wegen Corona gezwungen, Batida de Coco in München zu schlürfen.
Real Dschungel oder Fake Dschungel, das ist hier die Frage
Was ist so begehrenswert an dem ‚exotischen‘ Setting? Lieben die Zuschauenden es einfach, den Strand zu sehen, Palmen, Menschen in Bikinis, die Cocktails schlürfen, während zu Hause die Tüte Chips Ungarisch weggesnackt wird? Ja, bestimmt. Aber warum nicht zum Beispiel Portugal? Schließlich wird „Love Island“ auch auf Mallorca gedreht. Wohl aus dem gleichen Grund, aus dem es den Menschen so wichtig ist, zu wissen, ob der Promi-Dschungel denn nun echt sei. Seit Beginn der ersten „Holt mich hier raus“-Staffel wird heiß debattiert, ob der Dschungel wirklich einer ist oder doch nur ein Studio in Köln: Die Challenges wären nicht weniger eklig, die Stars nicht weniger verrückt. Aber je nach Echtheit der Szenerie wird auch die wahre Gefahr und damit die wahre Härte der Stars bestimmt.
Gerade der Backdrop einer ‚fremden‘ Umgebung, ein ‚gefährliches‘ Setting und eine ominöse ‚einheimische‘ Präsenz sind schon lange essentiell, um eine deutsche Heldengeschichte zu erzählen.
Literatur- und Geschichtswissenschaftler Medardus Brehl schreibt, dass schon populäre Kolonialliteratur vor rund 100 Jahren genau so funktionierte: Deutsche Protagonisten werden willentlich oder nicht-willentlich in afrikanische Länder verfrachtet, weil der Kontrast, die raue Landschaft, der Überlebenskampf und die ‚wilde‘, als Bedrohung empfundene Bevölkerung das perfekte Setting sind, um aus Hänschen einen Hans Wurst zu machen, einen deutschen Mann, einen Helden. Deutsche Kolonialliteratur „spricht über Selbstfindung als Individuum und als Volk durch die Konfrontation mit und den Kampf gegen die trostlose Landschaft und untergeordnete ‚Indigene’“.1 Es geht also weniger darum, die Landschaft darzustellen, oder über das Ankunftsland zu berichten, sondern darum, die Ferne als Hintergrund zu verwenden, als dunklen Vorhang, vor dem die deutschen Identität erst so richtig in Erscheinung treten kann. Mut, Heldentum, ‚echte‘ Männlichkeit, Ausdauer und Stolz; Attribute, die Deutsche sich selbst historisch gesehen gerne zuschrieben, um so einiges zu rechtfertigen: Mehrere Völkermorde, wirtschaftliche Ausbeutung und Rassismus auf sozialer, kultureller und institutioneller Ebene.
Man wird nicht weiß geboren man wird es
Diese Perspektive, weg von der Frage „Wie werden die ‚Anderen‘, wie werden Schwarze Menschen dargestellt?“ hin zu der Frage „Wie wird Weißheit2 erzeugt?“ ist zentral für die critical whiteness studies (kritische Weißheitsforschung). In einem der grundlegensten Texte dieser Forschungsrichtung stellt Toni Morrison 1992 provokant die Frage: „What parts do the invention and development of whiteness play in the construction of what is losely described as American?“3 Sie erkennt hier Weißsein als essentiellen Teil der nationalen (US-Amerikanischen) Identität an und argumentiert, dass in der Literatur immer dann afrikanische Schwarze Charaktere auftauchen, wenn sie dazu dienen, weiße Protagonist*innen als „frei […] begehrenswert, nicht hilflos, sondern priviligiert und mächtig, nicht geschichtslos sondern geschichtlich, nicht verdammt, sondern unschuldig, nicht ein blinder Zufall der Evolution, sondern fortschrittliche Erfüllung eines Schicksal“ darzustellen.4
Reality-Stars als Kolonialhelden 2.0?
Heute lesen ‚wir Deutsche‘ keine Kolonialliteratur mehr, wir hören den Podcast von Richard David Precht, um mitreden zu können und abends schauen wir Trash TV. Und siehe da, die letzte Staffel Kampf der Reality Stars weist erstaunlich viele Ähnlichkeiten zu den alten Erzählungen auf.
Worum geht’s? In der Sendung ziehen Promis zusammen in eine Sala (d.h. ein Haus, das an einer Seite offen ist) und kämpfen über mehrere Wochen in Wettbewerben um 50.000 € Preisgeld. So weit, so gewöhnlich. Die Sendung zeichnet sich dadurch aus, das ganz bewusst damit gespielt und sichtbar gemacht wird, dass hier wirklich viele Z-Promis teilnehmen, die vor allem eins wollen: Geld, Reichweite, Fame. Die Unterscheidung „Star“ (kann was) und „Promi“ (kann nichts, ist unberechtigt berühmt) wird deutlich. (Ich mache diese Unterscheidung nicht.)
Jetzt ließe sich fragen, ob diese Promis wirklich als Helden zu bezeichnen sind, wenn es irgendwo da draußen eine Person gibt, deren Job es ist, sich möglichst gemeine Voice-over Texte auszudenken, um die Stars maximal zu blamieren und durch die Blume zu beleidigen. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass wir auch immer dazu eingeladen werden, mit bestimmten Stars zu sympathisieren und zu hoffen, dass sie den Sieg holen. Ja, es gibt Promis, die als Teufel präsentiert werden (man erinnere sich an den manipulativen Andrej Mangold im Sommerhaus der Stars 2020). Aber es gibt immer auch die Guten: Loona, Sylvia Wollny, Willi Herren (RIP). Sie sind bodenständig, lästern wenig, sprechen sich gegen Homofeindlichkeit aus und betonen ihre Wertehaltung. Natürlich sind wir dazu angehalten, mitzufiebern und auf ihren Sieg zu hoffen.
Dass in den Spielen um Geld gekämpft wird, ist nur oberflächlich Thema. Die Redakteur*innen der Sendung werden zwar nicht müde zu betonen, dass es den Promis darum geht, um jeden Preis Fame und mehr Aufträge zu bekommen. Doch die Entscheidung, wer weiter kommt, treffen die Promis selbst.
Wer ist fake, wer authentisch? Wer manipuliert, wer spielt ein falsches Spiel? Abgestraft werden Arroganz, soziales Fehlverhalten, Lästern und Faulheit im Haushalt. Am meisten verdient weiterzukommen, haben es die Ehrlichen, Sympathischen, die im Team arbeiten, Freund*innenschaften knüpfen, die ihr ‚wahres‘ Gesicht zeigen. Die Tugenden stimmen also, egal wie trashig das Format anmutet. Ich habe es schon mal gesagt, und ich mache es noch einmal: Reality TV ist Bildungsfernsehen.
Reality-Stars im Ausnahmezustand
„Es war einmal in einer herrschaftlichen Bretterburg an einem fernen Sandstrand […] da trafen sich die edelsten Helden aus dem Reich Reality […] heldenhafte Märchenprinzen, prachtvoll und stolz und wunderschöne Prinzessinnen voller Anmut,“5 lauten die ersten Worte des Off-Sprechers, mit denen die Sendung eröffnet wird. Zeitgleich sehen wir, wie die Stars das Gegenteil von Stolz und Anmut präsentieren; sie stolpern über den Sandstrand, schreien herum, die Silikonbrüste der „Märchenprinzessinnen“ werden von der Kamera fokussiert. „Wem gebührt der Goldschatz?,“ fragt der RTL-Sprecher. Diese Einleitung greift nicht nur Motive deutscher Märchen auf, sondern verzwickt sie durch die Worte „Goldschatz“ eines „fernen Sandstrands“ auch mit kolonialen Motiven der Schatzsuche (Ausbeutung von Ressourcen) in ‚exotischen‘ (kolonialisierten) Ländern.
Dass das Setting in der ‚Ferne‘ wie damals in der Kolonialliteratur perfekt ist, um das Märchen beziehungsweise den Kampf um Werte darzustellen, klingt auch im RTL-eigenen Beschreibungstext an:
„Dort wohnen sie während der Show in einer großen offenen Bambus-Hütte in Phuket, die wenig Luxus bietet. Gestrandet und fern der Heimat sind die Hütten-Bewohner für die zu Hause gebliebenen Freunde und Verwandten nahezu unerreichbar. Hier befinden sich die Realitystars in einer ganz anderen Welt mit neuen Bezugspersonen und eigenen Regeln.“6
Hier wird zum einen die Ausnahmesituation verdeutlicht: Völlige Abgeschiedenheit, ein anderes soziales System und eine Einrichtung, die auf Grundbedürfnisse begrenzt ist. Die perfekte Ausgangslage also, um das Hässlichste und Heldenhafteste in den Promis hervorzubringen. Die Darstellung der Umgebung pendelt in der gesamten Sendung zwischen Paradies, wie in dem Eröffnungs-Shot der Sendung, und gefährlichem Terrain.

Kurz nach Ankunft deutet Influencerin Jenefer die Vögel in der Nähe des Hauses als unheimliches Zeichen. Im Laufe der Sendung schwingt das Wetter von Windows-Desktop Hintergrund zu Katastrophenfilm um. Die „Naturgewalt“, wie sie genannt wird, der Sturm und das wütende Meer, dramatisieren und führen sogar dazu, dass die Stars evakuiert werden müssen. Das „war wohl in bisschen zu viel reality“, kommentiert die Off-Stimme.
Diese Pendelbewegung zwischen Begehren und Angst, Traum und Alptraum sind genau das, was Wissenschaftler*innen als zentral für den Prozess des ‚Othering‘ identifiziert haben. Der Begriff beschreibt einen fortlaugenden Vorgang der Abgrenzung von einer Gruppe von Menschen mittels Kategorisierung, Stereotypisierung und Markierung als Abweichung. Wer definiert, wer die anderen sind, definiert auch sich selbst: Daher lieben wir es, auf das Fremde zu schauen, weil es (vermeintlich) so anders ist, und nur noch deutlicher macht, wer wir sind (gute Deusche).
weiß for what?
Es ließe sich auch fragen, ob wir von weißen Celebrities sprechen können, wenn de facto nicht alle deutschen Stars aus Reality-Formaten weiß sind. Doch die Konstruktion dessen, was es bedeutet, deutsch zu sein läuft wie wir sehen werden immer noch über ein rassisiertes, das heißt aufgrund ausgewählter Merkmale kategorisiertes und abgewertetes ‚Anderes‘.
Zurück zur Kolonialliteratur. Brehl schreibt: „Die Begegnung mit dem ‚Anderen‘ und das Unbehagen an dieser Begegnung sind zentrale Motive in diesen Literaturen. Grenzen, Abgrenzung, Entgrenzung und die Auflösung der Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen durchdringen und bestimmen diese Literaturen, ja sie sind ihr wesentliches Thema.“
Wer die gesamte Staffel „Kampf der Reality Stars“ gesehen hat, wird vielleicht verwundert sagen: „Aber es gab schlicht keine Begegnung mit bspw. Thailändern, die Stars waren ja ganz unter sich!“ Es ist interessant hier Brehl zu folgen und auf die Grenzen, und zwar die räumlichen Grenzen der Show zu schauen. Wenn die ’neuen‘ Stars Woche für Woche eintreffen, dann stehen sie nicht einfach vor der Sala, sondern sie werden per Boot an den Stand gebracht. Das Meer ist hier auf vielfältige Weise eine Grenze. Zum einen ist es den Stars untersagt, bis über die Knie ins Wasser zu gehen. In einer frühen Folge ist sogar ein Mitarbeiter des Produktionsteams dazu gezwungen, einen Teilnehmer herauszuholen, weil es zu ‚gefährlich‘ sei. Und das Meer ist die Grenze zwischen Show und nicht-Show. Es sind, wie man an den Screenshots sieht, stets nicht-weiße Personen, welche die Stars an das Set bringen. Sie betreten den Strand nicht, sie bleiben am Steg, werden nicht erwähnt, interagieren nicht mit den Stars (außer als Claudio Obert Trinkgeld springen lässt).

„Gleichzeitig erzeugt die Darstellung der ‚Wildnis‘ und des ‚Wilden‘ das Gegenbild des ‚Deutschen‘, der die Landschaft und sich selbst schafft“, schreibt Brehl. Die nicht-weiße Bevölkerung ist Teil der Kulisse. Sie ist unsichtbar, stumm. Als der Sturm die Sala droht zu zerstören, sind einige von ihnen tatsächlich da, um Reparaturen vorzunehmen. Mit Maske, pandemiebedingt. Mit Morrison können wir hier davon sprechen, dass die Anwesenheit der people of color gebraucht wird, um die Stars als Protagonisten aufzubauen: Teilnehmer einer Show, die bedient werden, die wichtig sind, denen der rote Teppich oder der Steg zum Traumstrand bereitet wird. Der Strand und die Sala werden zur deutschen Enklave, in der neue Held*innen entstehen.
Quelle: RTL 2021
In den meisten Reality-Formaten werden Diskurse darüber, wer gute Deutsche sind, fortgeführt. Ein Blick in die Vergangenheit, auf alte Erzählungen übers Deutschsein, ist immer dann gruselig, wenn da plötzlich jemand zurückblickt.
1 alle Zitate frei übersetzt nach: Brehl, Medardus: Figures of Disintegration. “Half-Castes” and “Frontiersmen” in German Colonial Literature on South-West Africa, in: Journal of Namibian Studies, 12, 2012, S. 7-27. https://namibian-studies.com/index.php/JNS/article/view/14.
2 „Schwarz“ schreibe ich, vielen Rassismusforscher*innen und Aktivist*innen vor mir folgend, groß und „weiß“ klein und kursiv. Diese Art der Markierung soll uns daran erinnern, dass wir hier nicht von tatsächlichen (Haut-)Farben sprechen, sondern von historischen und soziokulturellen Konstrukten. Schwarz und weiß sind erfundene Kategorien, die durch viele ‚Wissenschaften‘ und kulturelle Erzeugnisse, wie Kunst, Literatur, Filme, als ‚wahr‘ etabliert und rechtfertigt wurden. Trotzdem sind die Konsequenzen dieser Erfindungen, wie wir wissen, sehr real. Um darüber sprechen zu können, verwende ich sie also – mit Markierung – um auf ihre Fiktion hinzuweisen.
3 Morrison, Toni: Playing in the Dark: Whiteness and the Literary Imagination. Vintage Books, 1992. S. 9.
4 frei übersetzt nach ebd., S. 52-53.
5 alle (Bild-)Zitate aus: Kampf der Reality Stars, 2. Staffel, https://www.tvnow.de/shows/kampf-der-realitystars-18800, RTL, 2021.
6 ebd., eigene Markierung.
Danke für diese spannende Analyse. Insbesondere den Bezug zu Brehls und Morrisons Texte finde ich sehr überzeugend und interessant.
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Vielen Dank! Es gäbe natürlich noch viel mehr zu sagen, z.B. inwiefern auch die Produktionskosten niedrig gehalten werden durch die Platzierung von Shows in bspw. Thailand oder Mexiko. Und wie so nicht nur auf symbolischer Ebene Verhältnisse fortgeschrieben werden.
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